Der Mensch vor Gott

Zur theologischen Anthropologie heute

Ulrich Sander, Frankfurt am Main



Der Mensch vor Gott - aber welcher "Mensch"? Im Jahr 1998 entstand im Zusammenhang der Ausstellung "Prometheus. Menschen. Bilder. Visionen" (Alte Hütte, Völklingen) ein Buchprojekt, das Theologen ebenso unter die Autorinnen und Autoren reiht wie Bedenker und Vordenker der Neuen Technologien: "Die Erfindung des Menschen" (Hg. von Richard van Dülmen, Wien-Köln-Weimar 1998). Die Beiträge weisen einen gemeinsamen Richtungspfeil auf. Er ist formuliert in dem Zitat, das als Motto dem Sammelband vorangestellt ist:

"Daher ließ sich Gott den Menschen gefallen als ein Geschöpf, das kein deutlich unterscheidbares Bild besitzt, stellte ihn in die Mitte der Welt und sprach zu ihm: ... Wir haben dich weder als einen Himmlischen noch als einen Irdischen, weder als einen Sterblichen noch als einen Unsterblichen geschaffen, damit du als dein eigener vollkommen frei und ehrenhalber schaltender Bildhauer und Dichter dir selbst die Form bestimmst, in der du zu leben wünschst."

Mit diesen Worten definierte 1496 der Renaissancegelehrte Pico della Mirandola in einem neuen Schöpfungsmythos, einer theologischen Geschichte, die "Würde des Menschen" als offene Form der Selbst-Bildung. Der Internetjournalist und Theoretiker der Neuen Technologien, Florian Rötzer, greift am Ende des Bandes den Gedanken wieder auf:

"Der Vertreibung aus dem Paradies antwortet die Neuerfindung des Menschen und seiner Umwelt - und die Umschreibung der Schöpfungsgeschichte."



Die Neuerfindung des Menschen

Das vergangene zwanzigste Jahrhundert ließe sich vielleicht so überschreiben: "Die Neuerfindung des Menschen durch Techniken des Sozialen". In der vom Christentum geprägten Überlieferung Europas wurde Politik lange Zeit verstanden als haushälterische Verwaltung des Zeitlichen. In der Moderne dagegen entsteht die Vorstellung von Politik als einem sozialen Experiment zur Erfindung eines "Neuen Menschen". In der Folge des Ersten Weltkriegs kamen in Europa massengesellschaftliche Regime und Ideologien an die Macht, die diese Vorstellung in die Tat umsetzten: Politik als soziale Technik. Sie führte nicht zuletzt zu den unerhörten industrialisierten Tötungen des Jahrhunderts: zur versuchten Beseitigung aller, die nicht in das Bild dieses "Neuen Menschen" passten oder sich seiner Durchsetzung in den Weg zu stellen schienen. Das begonnene einundzwanzigste Jahrhundert scheint sich als Eröffnungsüberschrift gewählt zu haben: "Die Neuerfindung des Menschen durch Techniken des Lebens und des Bewußtseins". Die technologische Entwicklung steht vor ungeahnten Eingriffsmöglichkeiten auf der Ebene der Bausteine der Materie, des Lebens und des Bewusstseins (Nanotechnologie, Bio- und Gentechnologie, Informationstechnologie). Für die meisten naturwissenschaftlichen Laien sind die wissenschaftlichen Grundlagen schwer nachzuvollziehen und die technischen Anwendungen nicht absehbar: Was hier über den "Menschen" gesagt wird, bleibt für sie eine "fremde Vernunft".



Hoffnungen und Ängste: Die Neuen Technologien

Wie bei den vergangenen Sozialutopien vom "Neuen Menschen" so verbinden sich mit den Neuen Technologien Stimmen der Heilsverheißung und der prophetischen Warnung:

Die Neuen Technologien werfen schwerwiegende ethische Fragen auf: Sie werden von Fall zu Fall in der Öffentlichkeit diskutiert (wie zum Beispiel bei der Präimplantationsdiagnostik, die Embryonen vorgeburtlich auf genetische Defekte untersuchen will). Politik fühlt sich immer mehr durch wirtschaftliche Erwägungen gedrängt, ethische Bedenken zu relativieren. Dabei markieren die ethischen Weichenstellungen Entscheidungen, die die Grundlagen unserer Selbsterfahrung als Menschen berühren. Der amerikanische Philosoph und Wortführer einer Neuerfindung des Menschen, Max More, schreibt:

"Mit der Verwerfung von alten Mythen und dem Einsatz von wirksamen neuen Werkzeugen können wir die biologischen und psychologischen Grenzen transzendieren, um posthumane Wesen zu werden. Zu diesem Zweck müssen wir alle natürlich und kulturell verwurzelten Beschränkungen unserer Fähigkeiten beseitigen."

Der Mensch vor Gott - aber welcher "Mensch"? Gehören die Überlieferungen des christlichen Glaubens zu den überlebten "kulturellen Beschränkungen", die die Propheten der Neuen Technologien beseitigt wissen wollen, weil sie davon abhalten, die Neuerfindung des Menschen zu begrüßen?



Menschsein - aus wessen Händen?

Für Christinnen und Christen steht die Überlieferung des christlichen Glaubens ein für eine aktuelle Ermächtigung von Menschen, die sie vor der Verführung bewahrt, ihr Leben, ihr Glück, ihre Erfahrungen von Leib und Seele, ihre Hoffnungen auf Vollendung abzutreten an die vorgeblichen Sachzwänge wissenschaftlicher Entwicklung und ökonomischer Nützlichkeit und in die Hände der Techniker zu legen.

"Wenn ich ansehe deinen Himmel, das Werk deiner Hände, Mond und Sterne, die du hast gefestet, was ist das Menschlein, dass du sein gedenkst, das Erdenkind, dass du dich seiner annimmst? Ließest ihn ein Geringes nur mangeln, göttlich zu sein, kröntest ihn mit Ehre und Glanz, hießest ihn walten der Werke deiner Hände" (Psalm 8,4-7a nach der Verdeutschung Martin Bubers).

Im biblischen Psalm ist der Mensch auf die "Hände Gottes" bezogen: nicht als Ableitung aus einer feststehenden Lehre, sondern als nachdenkliche Selbstvergewisserung des Menschen vor Gott ("wenn ich ansehe. . ."). Gottes Größe macht den Menschen nicht klein, sondern groß: Der biblische Autor kann nur darüber staunen, ist das "Menschlein" (hebräisch: "enosch") doch winzig, verglichen mit dem Sternenall, und vergänglich als "Erdenkind" (hebräisch: "adam", der Erdling, von "adama": Erdboden).



Erfahrungsräume des Menschlichen

"Der Mensch vor Gott": Der achte Psalm fordert dazu heraus, nach Räumen für eine erfahrungsbezogene Selbstvergewisserung von Menschen zu suchen, die sie nicht klein, sondern groß macht, die sie ermächtigt auch gegenüber den Überwältigungsversuchen gegenwärtiger "Heilsverheißungen":





Die Zuständigkeit des Glaubens

Christinnen und Christen teilen mit ihren Zeitgenossen die Einsicht, dass Menschsein von vielen Faktoren bestimmt wird, und sie leben in einer Welt, in der Menschsein ein nach vorn offener und gestaltbarer Gegenstand menschlichen Handelns ist. Wenn Glaubende an der theoretischen und politischen Auseinandersetzung um Menschenbilder teilnehmen, dann steht vor allem der Ort zur Frage, von dem her sie sich und ihren Glauben ins Gespräch bringen. Von ihrer Bestimmung her ist kirchliche Gemeinschaft (Koinonia) ein sozialer Erfahrungsraum von Menschsein: Hier wird menschliches Leben gedeutet (Verkündigung) - im Unterschied zum vermeintlichen Zwang, "Sinn" zu produzieren. Hier übernehmen Menschen füreinander und für andere Verantwortung (Diakonia) - im Kontrast zur Reduzierung des Menschen als "Produkt" aller möglichen Faktoren oder als "Mittel" zur Erreichung anderer Ziele. Hier kann das vorhandene Leben auch in seinen Beschädigungen gefeiert werden (Leiturgia) - im Unterschied zu vielen Programmen der Selbstmanipulation des Menschen zu einem leidfreien Wesen. Kirche als Bezugspunkt für Anthropologie (Lehre vom Menschen), als sozialer Erfahrungsraum des "Menschen vor Gott": Sperrig gegenüber einer solchen Behauptung erweist sich nicht nur die Kluft zwischen einer theologischen Beschreibung der Kirche "von ihrer Bestimmung" her und ganz anders gearteten Erfahrungen "real-existierender Kirchentümer". Sperrig erweisen sich auch die gesellschaftlichen Aufgabenzuschreibungen an Kirche und Glaube. Das Prinzip der Arbeitsteiligkeit moderner Gesellschaften ist die Differenzierung nach Teilsystemen, die für zentrale Funktionen zuständig sind: Ökonomie, Politik, Erziehung, Kunst, Freizeit, Familie und so fort. Auch "Religion" erscheint als ein solches Teilsystem, institutionalisiert vor allem in den beiden großen Konfessionskirchen, die aber zunehmend in Konkurrenz zu anderen "religiösen Anbietern" stehen. Die Funktionen, die ihnen zugeschrieben werden, regionalisieren ihre Zuständigkeit: In der Religion gehe es um die "Seele" des Menschen, sie sei "Privatsache", sie habe mit dem "Jenseits" zu tun, und sie soll "Moral" vermitteln. Die Überlieferung des christlichen Glaubens und ihre innere Mitte, die biblische Botschaft, widersetzen sich diesen Regionalisierungen.



Die Selbstbegrenzung Gottes

Die Aussagen der Bibel enthalten kein ein für allemal verbindliches "Schema" menschlicher Selbsterfahrung und des menschlichen Selbstbezugs, aber sie sprechen vom ganzen Menschen, weder "Seele" noch "Körper" ist nach ihnen eine isolierbare Wirklichkeit. Die biblischen Aussagen enthalten keine ein für allemal gültigen Formen menschlichen Zusammenlebens, aber sie sprechen von Menschen in ihren Gemeinschaften, nicht von isolierten Individuen. Sie beschränken den Glauben als Gottesbezug des Menschen nicht auf eine Privatsphäre von Überzeugungen, sondern sind geprägt von sozialen Erfahrungen der Bedrohung und des Gelingens von Zusammenleben. Die biblischen Texte enthalten ein realistisches Bild von der Begrenztheit menschlichen Lebens. Sie zeichnen kein Ideal eines grenzenlosen Lebens; sie idealisieren aber auch nicht das mit der Begrenztheit einhergehende Leiden durch Vertröstung, sondern geben der Klage und der Bitte Raum. Das biblische Modell für das Heil der Menschen besteht nicht in einer Entgrenzung des menschlichen Daseins, sondern in der Selbstbegrenzung Gottes: Der "Ewige", von keiner Zeit Begrenzte, kommt in die Zeit der Menschen. Der "Allgegenwärtige", von keinem Ort Begrenzte, lässt seine Gegenwart unter den Menschen wohnen:

"Ich habe das Elend meines Volkes gesehen, und ihre laute Klage habe ich gehört. Ich kenne ihr Leid. Ich bin herabgestiegen" (Ex 3,7-8).

In der Hebräischen Bibel findet die Gegenwart Gottes ihr Bild im Zelt mit der Bundeslade, in der das aus der Sklaverei Ägyptens befreite Volk die Tora, die Urkunde der neuen Lebensordnung Gottes, als wanderndes Heiligtum mit sich führt. Anders als in den Tempeln der Antike gibt es nach der biblischen Erzählung in diesem Heiligtum keine Kultstatue; vielmehr ist die Deckplatte der Bundeslade der leere Thronsitz Gottes: "Von hier werde ich dir begegnen", spricht Gott zu Mose (Ex 25,22a). Die jüdische Auslegung hat dieses Wort als Zusage der Selbstbegrenzung Gottes gedeutet:

"Ich lasse mich auf der Deckplatte nieder, und ich begrenze meine Gegenwart" (Midrasch Exodus Rabba).

Im Neuen Testament findet die Gegenwart Gottes ihren Ort in der Person Jesu Christi. Jesus hat die Grenzen menschlichen Lebens geteilt und im Vertrauen auf Gott durchschritten (Hebr 5,7). Für Paulus ist der gekreuzigte Jesus der Ort der äußersten Selbstbegrenzung Gottes:

"Ihn hat Gott öffentlich hingestellt als Thron seiner Gegenwart für den Glauben in seinem Foltertod am Kreuz" (Röm 3,25 in textgetreuer Übertragung).



Kirche: Trägerin einer anthropologischen Erinnerung

Im Umgang mit den Grenzen des Lebens durch den Glauben an Gottes selbstbegrenzende Gegenwart unter den Menschen sind die biblischen Texte keine in Erzählungen eingekleidete Morallehre. Sie handeln von Bildern und Geschichten bedrohten und gelingenden Lebens, in denen die Identität von Menschen auf dem Spiel steht und durch ihre Beziehung untereinander und zu Gott gewonnen wird. Sie wollen einweisen in das Ringen des Menschen mit Gott. Dieses Ringen mit Gott ist nach ihrem Zeugnis die zentrale Erfahrung, der Menschen ihre "Identität", ihren "Namen" verdanken. In der biblischen Erzählung vom Kampf zwischen Jakob und Gott (Gen 33,23-31) geht der Mensch verwundet, aber gesegnet hervor, mit der Zusage eines neuen Namens: Israel, "Gottesstreiter". Dieser neue Name ist zugleich das Identität stiftende Kennzeichen des Gottesvolkes, der in Gottes Bund stehenden Menschheit: von Jakob bis zu Jesus, der im Ölberggarten mit Gott ringt und dem Gott in der Auferweckung "einen Namen gegeben hat, der über allen Namen ist" (Phil 2,9). Der verwundete Jakob-Israel, der gekreuzigte Jesus: Die biblischen Texte, ihre Geschichten und Bilder, halten eine "gefährliche Erinnerung" (Johann Baptist Metz) an Erfahrungen wach, in denen Identität gerade den Verwundeten, Besiegten, an ihren Grenzen vorgeblich Gescheiterten zugesprochen wird. Kirche als sozialer Erfahrungsraum des "Menschen vor Gott"? Das biblische Zeugnis kann seine befreiende Wirkung entfalten und Menschen in das Ringen mit Gott führen, wo die Verkündigung und Feier des Glaubens Kirche zur Erzählgemeinschaft macht. In ihr kann die gläubige Einsicht wachsen, dass das Gelingen des Lebens möglich ist auch jenseits dessen, was gesellschaftlich favorisierte Geschichten und deren Leitbilder als "Glück und Erfolg" beschreiben. Der Glaube, dass Gott aus den Wunden und Entstellungen des Lebens Segen wachsen lassen kann, eröffnet einen Freiraum, in dem menschliches Leben in seiner Würde anerkannt und ganz praktisch gelebt werden kann auch jenseits dessen, was gesellschaftlich vermittelte Bilder als "Schönheit und Stärke" darstellen.



Suchen, was verloren geht

"Du sollst dir kein Bildnis machen": Das biblische Bilderverbot bezeugt, dass Gott kein Bild hat - außer den Menschen. Aber welchen "Menschen"? Im Bild des ringenden Jakob-Israel, im gekreuzigten Jesus ermächtigt der Glaube zum Widerspruch gegen ein gesellschaftliches Bilderverbot dessen, was verloren geht, wenn der Mensch in seinen Grenzen verloren ginge.

Eine Kurzfassung dieses Aufsatzes ist erschienen in "Im Blickpunkt" (22/2001), herausgegeben von der Katholischen Akademie Domschule Würzburg.




© Ulrich Sander 2001