Medienphilosophie:


Internet und Cyberspace



Am Beginn auch der Medienphilosophie steht das Staunen. Die Veranstaltung "Medienphilosophie. Philosophische Implikationen und Konsequenzen von Internet und Cyberspace" (19. bis 21. Februar 2001) der Akademie des Bistums Mainz war nach allgemeiner Einschätzung der Anwesenden die erste deutschsprachige Tagung, die den Begriff der "Medienphilosophie" im Titel führte.

Der Rauch des Virtuellen

Irmgard Cornelia Klammer und Ulrich Sander auf der Tagung Medienphilosophie in Mainz. Nach einem Foto von Sabine Bauer. Mit freundlicher Genehmigung von netzstilus.at.

Für die Zeitschrift "BeDacht" der Mainzer Akademie habe ich die Tagung protokolliert (BeDacht 1/2001, 14-19). Einen ausführlicheren Bericht dieser Tagung finden Sie im folgenden:





Der Computer als Gott?


oder Die Brisanz der Fragen

Tagungsleiterin Dr. Veronika Schlör zog in ihrer Begrüßung Verbindungslinien am Beispiel des Filmes "Matrix". Ein kommerziell erfolgreiches, auf der Ebene der digitalen "special effects" beeindruckendes Produkt der Unterhaltungsindustrie, spricht der Film zentrale (medien-)philosophische Kategorien an: Selbstreferenz als Identifikation von Erkenntnis und Produktion und Interaktivität als Verbindungsmöglichkeit zwischen produzierter und produzierender Wirklichkeit. In scharfer Kontrastierung stellt der Film an diese "Medienwelt" die "klassischen" Fragen nach dem "Wahren" und "Guten": Virtualität erscheint als das wirklichkeitsbedrohende Böse, der Einsatz für das Gute wird dargestellt als Realität von Virtualität unterscheidendes und darin wirklichkeitsgerechtes Handeln. Zugleich kleidet der Film seine Dramatisierung des Themas in Motive der christlichen Erlösungsgeschichte: ein Erlöser mit der "Antenne für das Wahre", der stirbt und durch die Liebe (einer Gestalt namens "Trinity") wiedererweckt wird und von da an die virtuelle Gegenwelt von innen her aufzulösen beginnt, eine Täufer-Figur auf der Suche nach dem Erlöser ("Morpheus"), eine Judas-Figur, die den Erlöser verrät ("Cypher").

Die Dramatisierung des Wahrheitsthemas angesichts der Erfahrung von Virtualität wirft die theologische Frage nach dem "Computer als Gott" auf: Omnipräsenz, Allwissenheit und ein In-einander-Übergehen der Kategorien von Wirklichkeit und Möglichkeit gehören zu den traditionellen Attributen Gottes als des "ganz Anderen" und zeigen zugleich Erfahrungen menschlicher Nutzer im Umgang mit dem Computer als dem "bleibend Fremden" an.

Der Gottesfrage sekundiert die Provokation durch den "Cyberspace", die multimediale Ausweitung des Internet: Die telematische Vernetzung von Räumen, die erreichbare Gleichzeitigkeit räumlich Getrennter, der Wechsel von Identitäten ("Avatare") stellen vor kosmologische und anthropologische Fragen: nach Raum und Zeit, nach Identität und Körper/Leib.

In den beiden Fragen: "Wie ist die Differenz von Sein und Schein neu zu denken?" und "Wo bleibt ein Ikonoklasmus gegen die Hypertrophierung der Bilder?" gab die Tagungsleiterin der Studientagung ihr eigenes Erkenntnisinteresse mit auf den Weg.

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Medienpragmatismus


oder Das Ziel ist der Weg

Der erste Tagungsbeitrag von PD Dr. Mike Sandbothe (Universität Jena, zuletzt Lehrstuhlvertretung an der Universität Bielefeld) "Pragmatische Medienphilosophie. Grundlagen und Anwendungshorizonte" wies Medienphilosophie die Aufgabe wissenschaftstheoretischer Reflexion zu. Die medienphilosophische Fragestellung lautet dann nicht: Was sind oder wie funktionieren Medien?, sondern: Wie funktionieren Medienwissenschaften, oder wie sollten sie funktionieren? Als Vertreter einer pragmatischen Medienphilosophie strich Sandbothe sogleich die praktische Abzweckung einer solchen "Beobachtung dritter Ordnung" heraus: kulturwissenschaftlich-hermeneutisch ausgerichtete Medienwissenschaften einerseits und sozialwissenschaftlich-empirisch ausgerichtete Kommunikations- und Publizistikwissenschaften andererseits durch das Projekt einer "integralen Medienwissenschaft" zu verändern und zu verbinden. Im ersten Teil seines Vortrages konzentrierte sich Sandbothe auf die Anfrage, die ein solches Projekt für eine kulturwissenschaftlich orientierte Medienwissenschaft bedeutet. Im zweiten Teil skizzierte er den Gebrauch des Mediums Internet aus der Perspektive der vorgeschlagenen integralen Medienwissenschaft. Im dritten Teil seines Vortrags erläuterte er die philosophischen Hintergründe seines medienwissenschaftlichen Konzeptes und unterschied den Zugriff auf empirische Forschungsmethoden vom kurzfristigen Pragmatismus einer "Bezahlwissenschaft" im Dienste einer rigiden Kommerzialisierung

Mit der Trias von Wahrnehmungsmedien, Kommunikationsmedien und Verbreitungsmedien ist für Sandbothe der Gegenstandsbereich von Medienwissenschaft abgesteckt; für den wissenschaftlichen Zugriff unterscheidet er ein "theoretizistisches" (auf Theoriebildung um theoretischer Einsicht willen gerichtetes) Verständnis von Medienkulturtheorie von einem "pragmatistischen". Gemeinsam sei unterschiedlichen "theoretizistischen" Wissenschaftskonzeptionen die Frage nach der Möglichkeitsbedingung von Sinn, nach den Konstitutionsbedingungen und der Konstruktion von Wirklichkeit. Im Fokus ihrer erkenntnistheoretisch und semiotisch orientierten Aufmerksamkeit stehen Medien als Kommunikationsmedien. Demgegenüber sieht Sandbothe ein "pragmatistisches" Verständnis von Medienwissenschaft provoziert von praktischen Aufgaben und soziopolitischen Interessen. Hier geraten Medien vor allem als technische Verbreitungsmedien in den Blick, als Maschinen, mit denen Gesellschaften sich neue Weisen sinnlicher und semiotischer Welterzeugung aneignen. Sandbothes Vorschlag ist, eine "pragmatisch anspruchsvoll" gewordene Medienkulturwissenschaft mit den empirischen Forschungsmethoden der Kommunikations- und Publizistikwissenschaften zu einer "integralen Medienwissenschaft" zu verbinden.

Sandbothes Äußerungen über den Gebrauch des Mediums Internet lieferten ein konkretes Beispiel für seinen Ansatz. Gerade das Internet biete eine Chance der Gewinnung eines handlungsorientierten Wirklichkeitszugangs für eine durch die "kontemplative" (Enzensberger) Nutzung des (kommerzialisierten) Fernsehens passiv und politisch indifferent gewordene Bevölkerung ("Pragmatisierung der Alltagsepistemologie"):

In der Diskussion strich Sandbothe heraus, dass er die aufgeführten Beispiele nicht als optimistisch gefärbte Zustandsbeschreibungen oder Prognosen, sondern als Handlungsappell verstanden wissen will. Sein Konzept einer Medienwissenschaft begreife Nutzungspraxen nicht als Folge aus den Notwendigkeiten einer immanenten Medienlogik noch begnüge sie sich damit, lediglich die Auswirkungen von Kommerzialisierungsprozessen für den Mediengebrauch zu konstatieren. Es sei vielmehr Aufgabe von Medienwissenschaft, an die empirisch beschreibbaren Möglichkeiten von Mediennutzung Mitgestaltungsvorschläge zu knüpfen mit dem Ziel einer demokratischen Medienpraxis.

Erkennbar wurde als philosophischer Hintergrund Sandbothes die Position des Neopragmatismus: Wir haben es nicht nötig, Werte erst zu generieren, wir sollten versuchen, die vorhandenen Werte intelligent umzusetzen. Die beiden Grundsätze der Vermehrung von Solidarität und Verminderung von Grausamkeit und Demütigung im Zusammenleben von Menschen markieren für Sandbothe diesen kulturell vorausgesetzten Wertehorizont. Mit der Leitfrage "Welche Medienwissenschaft ist die angemessene für demokratische Gesellschaften?" weise sich der Pragmatismus als fruchtbare Alternative zu theoriezentrierten Ansätzen aus, sei es in den kulturwissenschaftlichen Fächern mit ihren Letztbegründungsfragen und deren realistischen oder konstruktivistischen Bearbeitungen, sei es in den sozialwissenschaftlichen Disziplinen mit ihren selbstzweckhaften Datensammlungen und Methodendisputen. Eine pragmatische Medienphilosophie führe zum Projekt einer "integralen Medienwissenschaft", in der die praktisch-politische Ausrichtung wissenschaftliche Instrumente zwar "parasitär" aus "theoretizistischen" Ansätzen bezieht, aber zugleich das theoretische Erkenntnisinteresse auf die praktischen Erprobungszusammenhänge verweist. Für das Internet stellte Mike Sandbothe Theoretiker und Praktiker der Medien vor die Aufgabe, das Netz als nichtkommerziellen Kulturraum von Kommunikation medienpolitisch zu sichern und eine auf die Nutzungspraxis ausgerichtete Medienkompetenz bildungspolitisch zu verbessern. Zielsetzungen, die nicht zuletzt im Interesse einer langfristig ausgelegten, auf Nachhaltigkeit abgestimmten Ökonomie lägen.

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Der betrogene Betrüger


oder Von der Natur der Kommunikation

Der Vortrag von PD Dr. Manfred Geier (Sprach- und Literaturwissenschaftler an der Universität Hannover) "Der Medien-Komplex oder: Kann Kommunikation noch natürlich sein?" führte von der Problemstellung, was Menschen mit medialer Wirklichkeit anstellen können und welche Wissenschaft sie dafür brauchen, zur Frage zurück, was diese Wirklichkeit mit den sie nutzenden Menschen anstellt. Zu Beginn zitierte er eine konstruktivistische Mediendefinition - "zentrale Instrumente der Wirklichkeitskonstruktion" (S. J. Schmidt) -, um in der Folge seinen Vortrag vor allem als Suchbewegung des Unbehagens zu entfalten, das sich an einer praktischen und theoretischen Einebung der Unterscheidung von "natürlich" und "künstlich" entzündet. Die Überschrift "Medien-Komplex" lieferte dafür das Eintritts-Wortspiel: "Komplex" als Vernetzung medial vermittelter Kommunikation, "Komplex" als diagnostische Benennung einer Störung.

Durch Kommunikation werde die Wahrnehmung der Differenz Ich-Welt und Ich-andere zugleich aufgebaut und überbrückt. In diesem Zusammenhang wies Geier auf den Bedeutungswandel von "Medium" in der Begriffsgeschichte hin: Bezeichne das Wort bei den Vorsokratikern die Natursphäre der Elemente, so werde es in der Neuzeit zu einem spiritistischen Begriff: "Medium" als etwas, das aus der Natur hinausführe und zu übernatürlichen Wesenheiten vermittle. Schließlich gehe "Medium" in die Sprache der Technik ein und bezeichne gerade ein Phänomen der Technologie. Die Frage "Wie natürlich kann Kommunikation noch sein?" richtet sich auf den Verdacht, dass Kommunikation als "natürliche" Fähigkeit des Menschen durch die Vermittlung dieser technischen Medien entstellt und überfremdet werde.

Die Fragestellung wirft sofort das Problem einer inhaltlichen Füllung des vorausgesetzten Naturbegriffs auf. Der Sprachwissenschaftler ließ sich zunächst einmal vom Grimmschen Wörterbuch leiten, worin "natürlich" als Gegenbegriff des "Künstlichen" erscheint, das zugleich die Bedeutung des Kunstfertigen umfaßt. Daran anknüpfend trug Geier unter der Überschrift "Vom Mythos (zum) Internet" eine kleine Philosophiegeschichte des Naturbegriffs als Motiverzählung von Täuschung und Authentizität vor. Als Kontrast zum neutestamentlichen "Im Anfang war der Logos" des Johannesprologs erinnerte Geier an den Pandora-Mythos: Am Anfang war die Täuschung. Auf Befehl des Zeus verfertigt Hephaistos einen weiblichen Automaten, um das (Männer-)Menschengeschlecht für die List des Prometheus, der das Feuer auf die Erde brachte, zu strafen. Hermes verleiht der Maschine Stimme und täuscherisches Gefühl. Der mechanische Androide öffnet das Kästchen, in das Prometheus alle Plagen eingeschlossen hatte: Alter und Krankheiten, Laster und Leidenschaften breiten sich aus. Hatte das Mängelwesen Mensch die Natur überlistet - der Raub des Feuers durch Prometheus -, so macht ihn das technische Wunder der künstlichen Frau zum betrogenen Betrüger. Die Unterscheidung des "Natürlichen" vom "Hergestellten" wird in der griechischen Philosophie leitend in der Bedeutungsdiskussion von Physis ("Natur") einerseits, Techne ("Fertigkeit") und Nomos ("Sitte und Brauch") andererseits. Nach dem Sophisten Antiphon herrsche einer Gleichheit aller Menschen von Natur aus aufgrund ihrer gemeinsamen Bedürfnisstruktur; Unterschiede entstünden gegen die Natur und durch den Nomos. Im Gegensatz zum Bereich der Techne bezeichnet Physis für Aristoteles alles, was das Prinzip seiner Bewegung nicht vom Menschen habe, sondern in sich selber trage. In der Ausbildung neuzeitlicher Wissenschaften durch Galileo und Descartes sieht Geier hier einen großen Umschwung: Das künstlich Machbare, die Mechanik wird jetzt zum Königsweg der Erkenntnis von Naturphänomenen. Mit Rousseaus Einsicht in die "Naturwidrigkeit" der Verhältnisse ließ die philosophiegeschichtliche Erzählung des Literaturwissenschaftlers eine Traditionslinie begründet sein, in der eine bleibende Spannung zum Ausdruck komme: zwischen der Suche nach authentischen Naturerfahrungen (Goethe) und der romantischen Erfahrung einer verknappten Natur (Novalis), die als schützenswertes Kunstprodukt erscheint.

Seine gegenwärtige Medienkritik entfaltete Geier am Beispiel der Fernsehformats "Big Brother": Hier werde mediale Inszenierung zum Labor, in dem menschlicher Rohstoff so lange bearbeitet wird, bis ein Keim medialer Identität erzeugt wird, der den Eindruck von Authentizität vermittelt. In seiner Veröffentlichung "Fake" (1999) zeichnet der Literaturwissenschaftler mythische, literarische und filmische Phantasien nach, in denen Körper, Bewußtsein und Gefühl des Menschen durch Simulacra bis zur Ununterscheidbarkeit simulierbar werden; auch mit seinem Vortrag wollte er "ein kleines Vetoschild der Natürlichkeit hochhalten". Die Differenz von Künstlichkeit und Natürlichkeit ist für Manfred Geier ein kritisches Regulativ, um zu begreifen, was stattfindet, und Entscheidungen zu treffen, was man will.

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Virtuell und erhaben


oder Nichts Neues unter der Sonne

Eine andere Differenz schlug der Tagungsbeitrag von Dr. Stefan Münker (Philosoph und Kulturjournalist, Berlin) "Verdoppelung der Wirklichkeit durch die Neuen Medien?" vor: die Unterscheidung von "Virtualität" als einer spezifischen Art und Weise von Realität und "Simulation" als einer Nutzungspraxis medialer Erzeugung von Realität, die eine mögliche Täuschung einschließt. Im ersten Teil seines Vortrags ging es um Begriffsbestimmung und Phänomenbeschreibung von Virtualität - nicht als eine kategorisch neue Form, sondern als bestimmte Modalität von Wirklichkeit -, im zweiten Teil um die nähere Kennzeichnung dieser Bestimmung - als einer besonderen ästhetischen Weise der Welterzeugung.

Das Eintauchen in medial erzeugte Räume der Wirklichkeit, die Nutzung von Medien als geistige und sinnliche "Immersionsmedien" ist für Münker keine Ersterfahrung im Umgang mit digitalen Medien, sondern bereits kulturgeschichtlich durch Lektüre von Büchern und das Anschauen von Filmen oder auch durch mystisch-religiöse Ekstastetechniken vertraut. Neu an der Immersionserfahrung mit digital erzeugten Räumen ist die gleichzeitige Erfahrung der "Telepräsenz", der Möglichkeit, mit Menschen und Daten innerhalt einer elektrischen Welt zu interagieren, eine Erfahrung, die bereits mit dem Telefon als Kommunikationsmedium beginnt. Die Science-fiction-Vision des "Cyberspace" entwirft die Vorstellung, mit Hilfe digitaler Technologie ein solches Immersionsmedium zu erzeugen, in dem das vollständige geistige und sinnliche Eintauchen in die virtuelle Realität des medialen Raumes gelingt, während der Körper als bloß äußerliche Hülle in seiner natürlichen Umgebung verharrt. Gegenüber einem Prognoseverständnis solcher literarischen Szenarien wollte der Referent sichtlich einen Entspannung heraufführen: Die Erzeugung einer perfekten digitalen Welt liegt für ihn in nicht im Bereich des von der technologischen Entwicklung in naher Zukunft oder vielleicht überhaupt Erwartbaren. Ihre Idee präge aber die Deutungen der vorhandenen digitalen Medien sowohl durch technophile "Propheten" als auch durch kulturpessimistische "Skeptiker" des Cyberspace. Erwarten jene die Entstehung einer immateriellen Welt des reinen Geistes, in der Menschen die bisherigen Schranken biologischer Lebewesen hinter sich lassen, so malen diese ein apokalyptisches Szenario, in dem Menschen ihrer körperlichen Erfahrung beraubt und die Wirklichkeit durch ein digitales Double ersetzt wird. Als gemeinsamen Fehler beider gegensätzlicher Position beurteilte Münker das Verständnis von virtueller Realität als einer neuen Kategorie von Wirklichkeit. Diesem Fehlverständnis lägen zwei Irrtümer zugrunde: zum einen der "immaterialistische Fehlschluss", der den durch und durch materiellen Charakter der digitalen Medien als Rechenmaschinen ignoriert, und zum anderen das Missverständnis der Interaktion mit digital prozessierten Daten als "rein geistig", das die Körpergebundenheit jeder menschlichen Aktivität, auch der symbolischer Interaktionen, ignoriert.

Was aber ist die Realität des Virtuellen dann? Hier unterstrich der Medientheoretiker die Unterscheidung von "Simulation" und "Virtualität": Zwar könne die digitale Erzeugung virtueller Räume als Simulationstechnik genutzt werden (zum Beispiel bei Flugsimulatoren), diese Nutzungsmöglichkeit - die Täuschung einschließen kann - sei aber nicht tauglich, das Spezifische virtueller Realität zu bestimmen. Teile man die Einsicht, dass für Menschen - zumindest über Sinne und Sprache als Medien - Wirklichkeit "immer nur als mediale Konstruktion" zugänglich ist, so bezeichne Virtualität sinnvollerweise eine spezifische Art und Weise dieser medialen Wirklichkeitserzeugung. Eines ihrer Kennzeichen sei die "konstitutive Interaktivität": Von Rechenmaschinen erzeugte Datenmengen werden zu einer "virtuellen Welt" erst durch den Nutzer und nur während der Zeit ihrer Nutzung. Die Realität des Virtuellen ist nutzerabhängig - sie existiert nur "in actu" -; jedoch nicht weniger wirklich als andere Wirklichkeitsweisen - worin aber liegt ihr Unterschied zu diesen? Auf welche Art und Weise wird die Wirklichkeit virtueller Welten erfahren?

Virtualität lässt sich für Münker verstehen als eine "ästhetische Weise der Welterzeugung", weil sich der Unterschied der Selbst- und Weltwahrnehmung in digital erzeugten Räumen gegenüber der in nichtvirtuellen Alltagswelten in Analogie zur Wahrnehmung ästhetischer Objekte begreifen lässt: als am selbstzwecklichen Vollzug der Wahrnehmung orientierte und auf die Wahrnehmungstätigkeit selbst bezogene sinnliche Erfahrung, "uns in Experimenten der Selbst-, Fremd- und Weltwahrnehmung als ein Anderer zu inszenieren". Digital erzeugte virtuelle Welten stellen für Münker eine spezifische Ermöglichung ästhetischer Erfahrungen dar, legen aber die Gegenstände dieser Erfahrung - im Unterschied zur Kunsterfahrung - nicht auf die Differenz von Objekten ästhetischen und nichtästhetischen Verstehens fest: Vollzugsorientierung und Selbstbezüglichkeit gelten als Erfahrungsmodalitäten in virtuellen Welten sowohl beim Rezipieren virtueller Kunst als auch bei ökonomischen Transaktionen oder im wissenschaftlichen Austausch. Die Besonderheit der Erfahrung virtueller Welten tritt damit erst als Differenz zur Selbsterfahrung außerhalb virtueller Räume ins Bewußtsein. Das in digital erzeugte Welten eintauchende Subjekt kann sich aus der Außenperspektive als virtuellen Agenten beobachten und als sein eigener Beobachter erfahren; eine Situationsbeschreibung, die aus der ästhetischen Theorie als Erfahrung des "Erhabenen" bekannt ist. In ihr brachte Stefan Münker die Entspannung, zu der seine ästhetische Deutung der Erfahrung des Virtuellen anregen wollte, auf den Punkt: "Was immer uns virtuell begegnet - wir sind, wie der Zuschauer des Schiffsbruchs bei Lukrez, in Sicherheit."

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Die Welt als Spiel und Verstellung


oder Ich sind viele

Der Beitrag von Prof. Dr. Sybille Krämer (Professorin für Philosophie an der FU Berlin) "Medien als Kulturtechniken oder: Ist der Umgang mit dem Computer eine vierte Kulturtechnik" teilte das kulturanthropologische Interesse an den durch die digitalen Medien eröffneten Möglichkeiten symbolischer Interaktion. Sie erläuterte ihr Thema durch vier Fragestellungen: Die Antworten auf die beiden ersten skizzierten die kulturalistische Perspektive auf Medientheorie und die These vom Umgang mit dem Computer als Kulturtechnik, die beiden anderen setzten sich mit den an die Kommunikation in virtuellen Räumen gerichteten Vorwürfen der Entkörperlichung und Depersonalisierung auseinander.

Was heißt es, eine kulturalistische Perspektive in der Medientheorie einzunehmen? Kultur als Vermittlung von Weltbezug identifiziere und strukturiere Erfahrung in der Spannung zwischen "Kunst" als der Produktion des Singulären und "Kulturtechnik" als den Mechanismen des Erwartbaren. "Medien erfüllen im Zuge dieser Praktiken eine Konstitutionsleistung". Nach dem "Tod des Subjekts" rückten die Medien in die Leerstelle und zögen Attribute des neuzeitlichen Subjektes auf sich. Eine gelungene Medientheorie - das eigene Projekt chiffrierte Krämer als "Medienanthropologie" - zeichne sich aus durch eine Erklärungsleistung für die kulturstiftende Wirkung von Medien bei gleichzeitiger Bewahrung der grundlegenden Intuition, dass es sich bei Medien um Sekundärphänomene handele: Medien vermitteln etwas, das selbst nicht mehr von der Natur eines Mediums ist.

Was sind Kulturtechniken, und warum kann der Umgang mit dem Computer als eine Kulturtechnik gelten? Als "Kulturtechniken" definierte Krämer "an den Gebrauch des Körpers gebundene Verfahren zum Umgang mit symbolischen Welten, durch die wir neue Spielräume für Kommunikation und Kognition eröffnen". Die Ablösung des römischen durch das arabisch-indische Ziffernsystem mit seinen neuen operativen Möglichkeiten galt ihr als prominentes Beispiel für die Leistung einer Kulturtechnik: Hochdiffizile Denktätigkeiten werden als Zeichenoperation mechanisiert. Die bekannten Kulturtechniken des Lesens, Schreibens und Rechnens verbinde das "symbolische Register der Literalität", dessen kognitives Potential auf Verräumlichung (in der Regel auf dem Papier), auf einer Präferenz für den Gesichtssinn (Okularzentrismus) und auf der Stillstellung des Körpers beruhe. "Werde zum Beobachter": Das medial ermöglichte Auseinandertretung von Aktion und Beobachtung und die Unterbrechung von Interaktion sei nicht als Entfremdungssyndrom, sondern als Kulturleistung zu würdigen. Die Interpretation der Computeranwendung als vierter Kulturtechnik beruhe auf der Wahrnehmung, dass mit ihr eine neue Modalität des Zeichenhandelns eröffnet sei: Über das Hervorbringen, Speichern und Löschen, das Anschauen und Deuten von Zeichen in der literalen Symbolwelt hinaus ermöglichten die digitalen Medien eine Interaktion von Menschen mit Symbolwelten. Zwei Phänomenen widmete Krämer besondere Aufmerksamkeit: der Wechselwirkung zwischen Nutzer und Datenstrukturen durch "Techniken der Telepräsenz" in virtuellen Welten und der zeitgleichen schriftlichen Kommunikation von räumlich Getrennten in der telematischen Kommunikation.

Bedeutet Virtualisierung zugleich eine Entkörperung? Gegen die These vom Verschwinden des Körpers durch die digitalen Medien setzte Krämer die These von der Verdopplung (beziehungsweise Vervielfachung) des Körpers in einen physischen Leib, den "Fleischkörper", und dessen semiotisches Double, den "Datenkörper", die über digitalisierbare Bewegungsmuster miteinander verbunden bleiben. Mit Hilfe der Spiegelmetapher (Elena Esposito) erläuterte Krämer diese Vorstellung: Spiegel schaffen keine illusorischen Objekte, sondern einem realen Objekt einen illusorischen Raum. Im Fall von computergenerierten virtuellen Welten als solche Spiegel gelte: (a) Das zu spiegelnde Objekt ist ein semiotisches, es besteht aus Zeichen, (b) der Raum der Spiegelung wird betretbar. Grundlegende anthropologische Möglichkeitsbedingung auch für die Interaktion im Computer und für den Eintritt in die virtuellen Räume ist die Doppelung von physischer Vorhandenheit des Leibes (Physis) und inszenatorischer Aufladung als Zeichenträger (Semiosis): Die digitalisierbare Semiotisierung des Leibes ist das Nadelöhr des Zutritts zum Neuartigen des Virtuellen, zur Interaktion mit den Symbolwelten selbst.

Bewirkt die telematische Kommunikation eine Depersonalisierung? Unter telematischer Kommunikation wird das digital ermöglichte "schriftliche Gespräch" verstanden: Was bedeutet die Pseudonymität dieser Kommunikationen im Netz für den performativen Charakter des Sprechens als Tun, in dem eine intersubjektive Beziehung gestiftet wird? Gegen die These von einem Verschwinden der Person durch die digital ermöglichten Kommunikationsformen setzte Krämer die These von der Differenzierung des Nutzers in "Person" und "persona" (Maske, Rolle, Schauspieler). Die im Netz agierenden "personae" bildeten virtuelle Gemeinschaften, die herkömmliche (zum Beispiel an die räumliche Zugehörigkeit einer Person zu einer staatlich verfaßten Gemeinschaft gebundene) rechtliche Ordnungen zwar tendentiell ignorierten, dafür aber neue netzinterne Normen entstehen ließen ("Netikette"). Diese glichen den Regeln, die das Spiel als eigene Handlungsform auszeichnen. Neben instrumentell-strategischem und verständigungsorientiertem Handeln gibt es für Krämer das spielerische Handeln als eine eigene idealtypische Kategorie und Dimension. Es zeichnet sich aus durch die Erhaltung des Spielpartners, die Dialektik von Verfügbarkeit der Situation durch eigenes Handeln und Unverfügbarkeit des Spielablaufs, die Rolle des Zufalls im Verlauf und die Selbstzweckhaftigkeit des Handelns durch Ausschaltung des Performativen und der lebensweltlichen Handlungsverstärkung der Sprache. Indem das Spielerische als dritte Kategorie von Handlung und die ihr eigene Normativität sich als Modell der im Netz ausgebildeten Kommunikation und ihrer Regeln verstehen lasse, könne eine bemerkenswerte Veränderung des sozialen Raumes durch virtuelle Kommunikation wahrgenommen werden. Gegen die These von der medialen Inszenierung des Selbst als täuscherischem Vorspiegeln von Identität setzte Sybille Krämer die These von der Bereichung des Selbst durch die digitale Ausweitung seiner Inszenierungsmöglichkeiten in den "personae" des Netzes: Wir sind immer schon Wesen, die auch in ihrem Alltagshandeln ein "Als-ob" vollziehen.

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Die Welt als Wille zur Vorstellung


oder Vom Furor des Erscheinens

Der Tagungsbeitrag von Prof. Dr. Siegfried Schmidt (Direktor des Instituts für Publizistik und Kommunikationswissenschaften, Münster), "Furien des Verschwindens? Wirklichkeit und/oder Medienwirklichkeit", stellte den Begriff der "Fiktion" ins Zentrum der Überlegungen und geriet darüber hinaus zu einer kleinen Lehrstunde in konstruktivistischer Philosophie. In einer ersten historischen Reminiszenz verband Schmidt mit der Erfindung von Sprache und Schrift den "dualistischen Sündenfall", die Teilung der Welt in Zeichen und Referenten und die daraus entstehenden Folgeprobleme von Semantik, Wahrheit und Ontologie. Den Bedenken, durch die digitalen Medien komme den Menschen die Wirklichkeit abhanden, stellte er die Frage entgegen: Wie kann man etwas verlieren, das man nicht besitzt? Im Blick auf eine Definition der Medien gewendet, lautete der konstruktivistische Zugang nicht: Was ist ein Medium?, sondern: Welchen Medienbegriff braucht man für welche Zwecke, und worin bestehen die Kosten und Nutzen der Entscheidung? Das Spektrum dessen, was unter Medien sinnvollerweise zu verstehen sei, umriß Schmidt mit seinem "Medienkompaktbegriff", der unter Medien dreierlei versteht:

Jedes Medium wirke "im Rücken der Beteiligten"; es stelle eine Ausweitung der Möglichkeiten dar, zugleich unterwerfe es den Nutzungswilligen den Bedingungen des Mediums. Neu ankommende Medien erweiterten das Gesamtmediensystem einer Gesellschaft. Moderne Gesellschaften verfügten über komplexe Gesamtmediensysteme, sie seien zu verstehen als Medienkultur-Gesellschaften.

Für Schmidt ist die Frage nach der Wirklichkeit zurückzurechnen auf die Frage nach denen, für die sie wirklich ist, und den Verfahren, durch die sie für sie wirklich ist: Medien als Instrumente der Wirklichkeitskonstruktion. Die Sprach- und Kommunikationsgebundenheit unserer Wirklichkeitskonstruktion rühre her nicht von dem Charakter der Sprache als eines semiotischen Systems (Zuordnung von Zeichen und Referenten), sondern beruhe auf ihrer Bedeutung für sozial erfolgreiches Verhalten, für die Verlässlichkeit, dass andere ähnlich operieren wie wir selbst: die erste große Fiktion, die Gesellschaftsbildung erlaube. In einer zweiten historischen Reminiszenz fragte Schmidt zurück nach dem Ursprung der Sprache. Kommunikation als Voraussetzung von Sprache setze ihrerseits Reflexivität als Beobachtung von Beobachtung voraus. Ich kann erwarten, dass der andere erwartet, dass ich weiß, was er weiß: Erwartungserwartungen und Unterstellungsunterstellungen seien eine erste Stufe von Reflexivität, eine komplexe entstehe aus ihrer Kombination: der Beobachtung von Unterstellungsunterstellungen, der Unterstellung von Erwartungserwartungen. Der so in Gang gekommene Prozess der Reflexivität ist in konstruktivistischem Verständnis "halt- und grundlos" im Sinne einer Autopoiesis: Nichts belege diesen Prozess von außen.

Schmidt unterscheidet "Fiktionalität" als Diskursqualität von Literatur von "Fiktionen" als "Als-ob-Annahmen, deren Richtigkeit nicht bewiesen ist, aber unterstellt werden kann". Das Kriterium zur Beurteilung "operativer Fiktionen" sei nicht ihre Richtigkeit, sondern ihre Nützlichkeit (Funktionalität). Operative Fiktionen sieht der Kommunikationstheoretiker auf fünf verschiedenen Ebenen wirksam: kognitiv (Schemata, Theorien), kommunikativ (kollektives Wissen), kulturell (selbstorganisierende Semantikprogramme), medial (Öffentllichkeit, öffentliche Meinung, images), technisch (virtual realities). "Öffentlichkeit" als eine mediale operative Fiktion bezeichne zum Beispiel die Unterstellung, dass das Medienangebot einer Gesellschaft von allen genutzt werden könne und genutzt werde. Im Bereich des Mediensystems komme es zu einer zunehmenden Selbstorganisation: Medien beobachten, kommentieren und kontrollieren sich wechselseitig. Durch zunehmende Intermedialität und Reflexivität schlössen sich Medienkultur-Gesellschaften Schritt für Schritt von nichtmedialen Wirklichkeiten ab: mit der Folge, dass sich Beobachtungsmöglichkeiten erheblich ausweiten und die Kontingenzerfahrung wachse: die Endgültigkeit der Vorläufigkeit.

Die mediale Fiktionalisierung von Wirklichkeit sei nicht zu begreifen von einem (Miss-)Verständnis der Sprache als Zeichensystem (wahr-falsch), vielmehr führe ein (rechtes) Verständnis der Sprache als Maschine zur Frage nach Verantwortung in der medialen Konstruktion von Wirklichkeiten. Die Wirklichkeitsfrage werde umformuliert als Frage nach Voraussetzungen, Strukturen, Bedingungen von Operationen und Testkriterien, nach denen wir Wirklichkeit erzeugen. Solche Testkriterien seien: das bisher gewonnene Wissen als Basis, die Anschlussfähigkeit in Kommunikation und Handlung, die inhaltliche Prägnanz als Grundlage sozialen Handelns, die Ermöglichung von Langzeiteffekten und die Auslösung emotionaler Befriedigung. Schmidt sah die Postmoderne gekennzeichnet durch drei Lernschritte: Die Überwindung des Dualismus von "wahr und falsch" führe zur Modalisierung von Wirklichkeit, in der Kombination solcher Wirklichkeitsmodule komme es zur Modularisierung von Wirklichkeit ("Combine"), schließlich zur Virtualisierung von Wirklichkeit: Wirklichkeit als normative Virtualität, als Phasenraum, in dem Menschen eine Wirklichkeit für eine bestimmte Zeit und für bestimmte Zwecke erzeugen. An die Stelle semantischer Probleme treten die Fragen: Wie haben wir die Virtualität erzeugt und zu welchem Zweck? An diese Frage schloss sich eine Tabellierung von Medienwirklichkeiten an (intendierte und inszenierte Authentizität, Simulation und Kassation von Gattungserwartungen, inszenierte und reportierte Spiele, künstlerische Fiktionen).

Die von dem Beitrag in Gang gesetzte kurze Debatte, die wohl heftigste der Tagung, gab Siegfried J. Schmidt Gelegenheit, den Begriff der "Konstruktion" (von Wirklichkeit) gegenüber einem Missverständnis als "bewusste Herstellung" zu präzisieren ("Konstruktion ist Widerfahrnis") und zu verteidigen. Zugleich strich er die Bedeutung seines Ansatzes für eine Medienethik heraus: Sobald operative Fiktionen beobachtbar würden, würden sie veränderbar; die erhöhte Beobachtbarkeit, die eine Medienkultur-Gesellschaft auszeichne, führe zu einer erhöhten Verantwortung.

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. . . die Seele in den Kasten springt?

Mit dem Beitrag von Dr. Sabine Bauer (Philosophin und EDV-Unternehmerin, Wien), "Abschied von der Leibhaftigkeit? Im Zwiegespräch mit den Maschinen" schloss die Reihe der Referate ab. Gegenüber den deduktiven Begriffsdistinktionen ihres Vorredners lud die Referentin zu einem assoziativen "philosophischen und kulturwissenschaftlichen Spaziergang durch den Maschinenpark" anhand von fünf Stationen ein: Göttliche Gefäße als Denkwerkzeuge in prähistorischer Zeit, Maschinen als Werkzeuge der Götter und Menschen in der Antike, Maschinen als Leidensinstrumente in der Epoche des Christentums, Maschinen als bessere Menschen in der europäischen Neuzeit und Maschinen als Lebewesen und Freunde im digitalen Zeitalter. Der bilderreiche Vortrag streifte dabei nicht zufällig religionsphilosophisches Gelände: Mit dem Stichwort vom Maschinenkult spannte Bauer einen Bogen von archaischen Menhiren bis zur zeitgenössischen Verehrung digitaler Maschinen und fragte nach den Auswirkungen jeweiliger Maschinentypen und -praktiken auf das Verhältnis von Leib, Seele und Geist.

Der Vergleich einer Stele der Eulengöttin und eines frühen Modells des Apple Macintosh illustrierte diesen Brückenschlag: vom Stein als dem ursprünglichsten Objekt kultischer Verehrung zu den Silicium-Chips der Datenspeicherung. "In ihnen lagern wir durch unsere Arbeit an den Geräten Seelensubstanz ab." Der alte Glaube an die Materialität der Seelensubstanz - ins Christentum eingegangen in der Gralslegende und im Reliquienkult - sei eine Warnung vor Visionen der Künstlichen-Intelligenz-Forschung an einer direkten Hirnverbindung zum Computer: "Die Gefahr besteht darin, dass wir dabei den Leib als heiliges Gefäß für die seelische Transformation verlieren und glauben, die Vergeistigung ohne den Körper vollziehen zu können." Als Erbe der griechischen Antike strich Bauer die Zwiespältigkeit unseres Maschinenverhältnisses heraus: Aus der Verbindung des Denkens mit dem aus Maschinenumgang und Maschinenbeherrschung gewonnenen Erfahrungswissen führe zum einen ein Weg zur Beschäftigung mit der Weisheit, zur Philosophie. Die philosophische Beerbung des Orakelkults mit seinen Orakel- und Theatermaschinen imprägniere zum Beispiel Platons Begriff der Theorie als einer Betrachtung der Welt als Bühne und Schauspiel. Zum anderen setze sich in unserem Maschinenverhältnis die Bedeutung des griechischen "mechane" als eines "Geräts zur Überlistung", von den Totenorakeln bis zum deus ex machina des Theaters, fort: "Die menschliche List bestand darin, einen Menschen mit Hilfe einer mechanischen Verrichtung erscheinen zu lassen und dem Publikum und Ratsuchenden glauben zu machen, es handle sich um den Auftritt eines göttlichen Wesens". In der Epoche des Christentums sieht Bauer Maschinen vor allem im Einsatz, um eine bestimmte Leiberfahrung in ihrer religiösen Bedeutsamkeit, als Zeugen und Garanten, auszuzeichnen: die Folterwerkzeuge des Martyriums, die imaginierten Läuterungs- und Strafwerkzeuge in Fegfeuer und Hölle. "In dieser Vorstellungswelt sind Leib und Person noch untrennbar verbunden. Als krassen Gegensatz erleben wir, durch den gegenwärtigen digitalen Maschinenkult suggeriert, dass es bei der Übertragung der Botschaften auf die Geräte nicht auf die menschliche Wet-ware' ankommt."

Nahe an die Visionen eines zeitgenössischen Maschinenkults führten Bauers Überlegungen zum mechanistischen Weltbild der Neuzeit. Wird die Welt als eine tote machina mundi begriffen und der menschliche Körper "als eine Art Maschine" (Descartes), so entstehe das, was bei Günter Anders als die prometheische Scham beschrieben wird, "geworden und nicht gemacht zu sein". Technologien der Biowissenschaften und der Künstlichen-Intelligenz-Forschung gäben den Träumen von Wissenschaftlern die "phantasmatische Ausrichtung", eines Tages anstelle des biologisch hinfälligen Menschen eine Maschine als den "besseren Menschen" setzen zu können. Hier sei die philosophische Frage aufgeworfen, ob Geist und Seele als romantisch-religiöse Relikte aus der Zeit vor dem Informationszeitalter aus der Definition des Menschen entfernt und durch Technologien der Künstlichen Intelligenz, von artificial consciousness und artificial soul ersetzt werden. Bauer schloss ihren Vortrag mit einem Fragezeichen: Maschinen als Lebewesen und Freunde? Sie verwies einerseits auf das Phänomen, dass Menschen ihren Computer wie ein Du mit Namen versehen und ansprechen, zum anderen auf die auch im E-Commerce eingesetzten "Avatare" als digitale Alter egos von Personen, die Auskunft geben sollen. Indem die "virtual friends" den Menschen an Emotionalität und Mitempfinden erinnern, könnten die Nutzer mit Hilfe der Maschinen lernen, wieder menschlicher zu werden. Mit diesem Gedanken klang noch einmal das Hintergrund-Motiv der Ausführungen Sabine Bauers an: Das digitale Zeitalter mit den ihm eigenen Maschinentypen und -praktiken dialektisch als Epoche zu begreifen, in der Selbstheilungskräfte der Menschen provoziert und aktiviert werden - als Chance, von der Leibhaftigkeit nicht Abschied zu nehmen, sondern ihre Wiederkehr zu begrüßen.

© Ulrich Sander, Frankfurt am Main 2001